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Athos - Erhart Kästner zum 100. Geburtstag


Lieber Freund,

nun möchte ich Dir doch einige Episoden von meinen Athos-Erlebnissen berichten. Es ist aber nur ein Blick durch das Schlüsselloch, da ich auf dem postbyzantinischen Athos so viel gesehen und erlebt habe, daß es zwar keinen Roman, aber zumindest eine Novelle ergäbe. Weil ich den Athos zweimal besuchte und auch wieder besuchen werde, konnte ich verschiedene Veränderungen beobachten, die sich in den letzten Jahren vollzogen haben. Im wesentlichen hatten sich hier seit über tausend Jahren eine starke Kultur und ein starker Glaube mit seiner lebendigen Tradition fast unverändert erhalten. Nichts kann jedoch im Urzustand ewig bleiben und sich gegen die äußeren Zwänge wehren. Darum ist es mir auch besonders bewußt geworden, welches literarische Denkmal Erhart Kästner mit seinem Buch „Die Stundentrommel vom heiligen Berg Athos“ geschaffen hat. Denn so wie er diese einzigartige Mönchsrepublik schildert, wird sie in Zukunft nicht bleiben. Wir haben nicht alle Klöster erlebt, welche Kästner beschreibt, dafür einige andere.

Im Jahre 1991 bot mir mein Sammlerfreund Christian Heyne an, ihn auf einer Athos-Wanderung zu begleiten. Es sollte in einen der letzten Winkel Europas gehen, ein Refugium, in dem die Mönche ohne Einflüsse der modernen Zivilisation bis heute in schönster Natur ungestört ihrem Glauben leben können. So wie er mir sein Vorhaben schilderte, versprach es uns ein wirkliches Hinüberwechseln in eine vergangene Zeit zu werden. Ich war sofort begeistert! Harald Marx fragten wir, ob er uns als Dritter im Bunde begleiten wolle. Auch er war von der Außerordentlichkeit der uns erwartenden Erlebnisse und Eindrücke schnell überzeugt. Unsere Neugier war grenzenlos. Als langjähriger Athos-Pilger organisierte Christian Heyne alle Formalitäten. Ich möchte auf das komplizierte Vorspiel für die Einreisebedingungen verzichten und beginne mit einem Fährboot bei stürmischer See. Mit diesem kleinen Schiffchen ließen wir die moderne Welt hinter uns und betraten eine Welt aus der Vergangenheit. Es kam mir vor wie eine Reise ins Mittelalter.

Die Einreise erinnerte mich an den skurrilen Roman des Kästnerfreundes Hermann Kasack „Die Stadt hinter dem Strom“. Wir fuhren mit dem Fährschiff in Richtung Daphni, einem alten Hafen, der noch auf die Zeit von Herodot zurückzuführen ist. Von jetzt an herrschte der „Heilige Ernst“ über uns. Den ungeschriebenen Gesetzen des Ajion Oros folgend, verboten wir uns zu rennen, im Meer zu baden, laut zu lachen, die Arme auf der Brust zu verschränken und natürlich an Frauen zu denken. Von Daphni brachte uns ein kaputter Uraltbus auf der einzigen Straße, die es 1991 hier gab, in die Hauptstadt Karyais. Die Straße wurde zur 1000-Jahrfeier der Gründung Mégisti Lavras eigens für den wichtigsten Besucher, König Paul von Griechenland, gebaut. Man konnte einem so hohen Besucher nicht zumuten auf einem Maultier zu reiten. In Karyais stellten wir uns dem Sekretär der Heiligen Gemeinschaft vor, um endgültig unser Diamonitírion zu empfangen. Das berühmte Diamonitírion, das man für die Einreise benötigt und sehr schwer bekommt, ist auf deutsch mit „Durchgeherlaubnis“ zu übersetzen. Harald Marx und ich sollten es aber zunächst nicht bekommen. Wir hatten noch einen DDR-Paß. Dieser war in der Übergangszeit nach der Wende weltweit zwar gültig, aber eben nur in der „Welt“, nicht jedoch auf dem Athos. Gewöhnlicherweise bekommt niemand, der in einem kommunistischen Land beheimatet ist, eine Einreise-Erlaubnis. Wir erklärten nun, daß es das Land DDR nicht mehr gibt. Ja, aber wieso kommt dann der Paß von einem Land, welches nicht mehr existiert? Um dem Dilemma einen Schlußpunkt zu setzen, kamen unserem Freund Christian Heyne seine alten Erfahrungen mit der dortigen Administration zugute, so daß wir uns am Ende in gutem Einvernehmen wieder voneinander trennen konnten. Alle Probleme lösten sich in Luft auf.

Unsere Wanderung konnte losgehen. Das erste Ziel war das Kloster mit dem schönen Namen Koutloumousíou. Unterwegs kamen wir an der beeindruckenden Skiti Agia Andreas vorbei. Es sieht aus wie eine kleine Stadt. Die Hauptkirche soll die größte Kirche Osteuropas sein. Sie wurde im 19. Jahrhundert für 700 Mönche errichtet. Wir begegneten dort nur noch drei Mönchen. In Koutloumousiou konnten wir übernachten, wo wir uns für den nächsten Tag mit dem Maler und Schriftsteller Andreas Block und seinem Begleiter, dem Tiroler Bergsteiger Walter Hauser verabredet hatten, um gemeinsam nach Daphni zu wandern und mit einem wackligen Schiff zur Südspitze in das Mönchsdorf „Agia Anna“ zu gelangen. Ich glaube einen schöneren Ort auf der Welt noch nicht gesehen zu haben. Von dort aus begannen wir mit unserer Besteigung des Gipfels. Es ist für jeden Mönch des Ajion Oros ein Gebot, einmal im Leben die Gipfelbesteigung zu wagen. Dem wollten wir nicht nachstehen. Für unseren Begleiter Andreas Block war es die achte Besteigung. Dennoch ein großes Wagnis, denn er war schon 70 Jahre und bedingt durch eine schwere Kriegsverletzung sehr gehbehindert. Er wollte es noch einmal erleben. Die Idee verlieh ihm die Kraft. Für uns war es imponierend, die ungeheure Willenskraft dieses Menschen zu sehen. Meter für Meter schleppte er sich voran. Nach oben wurde es immer schwieriger. Aber er wußte genau, wie man seine Kräfte sinnvoll einsetzen kann. Inzwischen befanden wir uns in den Wolken, die so gut wie immer den Berg umschließen. Als wir die Panaghia, den Garten der Mutter Gottes erreichten, befanden wir uns über den Wolken. Die Berghütte fanden wir unverändert so vor, wie Kästner 35 Jahre früher. Es war aber den gegebenen Umständen entsprechend möglich zu übernachten. Am nächsten Tag, Himmelfahrtstag, machten wir uns rechtzeitig auf den Weg, um genau bei Sonnenaufgang oben zu sein. Dort konnten wir als Lohn unserer Anstrengungen eine wunderbare Erscheinung erleben. Die Strahlen der aufgehenden Sonne berührten das Gipfelkreuz. Im gleichen Moment wuchs pyramidenförmig in den Morgendunst des Himmels der Schatten des riesigen Berges hinein, genau in Richtung Westen. Ich hatte das Gefühl, hervorgerufen durch diese überwältigende, übernatürlich wirkende Lichterscheinung, in mir löse sich eine künstlerische Neugeburt aus, für meinen zukünftigen Werdegang als Maler. Die Begriffe Zeit und Raum bekamen in dieser Situation eine ganz andere Wertigkeit als in der Welt, der wir entstammen. Es ist ein erhabenes Gefühl, irgendwann an einem Ort zu stehen, der einem schon seit Jahren aus der Literatur vertraut ist. Bei späteren Begegnungen mit den Mönchen erzählten wir begeistert von unserem Gipfelerlebnis. Wir ernteten dabei immer die größte Bewunderung und hörten grundsätzlich die Worte: einmal in meinem Mönchsleben besteige ich auch den Gipfel. Wir lernten jedoch keinen einzigen Mönch kennen, der das vollzogen hatte.

Schon auf dem Gipfel verabschiedeten wir uns von unseren beiden Begleitern und gingen von nun an unsere eigenen Wege. Beim Abstieg von diesem heiligen Marmormassiv hatten wir dann ein seltsames Erlebnis. Wir sahen, wie ein Mönch auf einem Maultier seitlich des Berges ritt, als unvermittelt das Tier die Idee bekam, die Gegenrichtung zu favorisieren. Das starke Gefälle des Hanges mißachtend drehte sich der Esel um und warf in seiner unschuldigen Laune den Reiter einfach ab. Er kullerte uns regelrecht vor die Füße. Zum Glück hatte er sich, wie er sagte „nur ein paar Rippen“ gebrochen, dies sei nicht weiter schlimm. Alles was wir tun konnten, war ihm zu helfen in sein Kellion zurückzukommen. Dieses befand sich im paradiesischen Kerasía. Laut Kästner das südlichste, höchste und ausgesetzteste Gottesnest des Heiligen Berges. Der Mönch kochte uns einen Kaffee und war dann ebenfalls behilflich, indem er freundlich zwei Maultiere zur Verfügung stellte, von denen eines für die Bewegung unseres Gepäckes zwar genügt hätte, welches aber seinerseits unbedingt auf die Begleitung seines eifersüchtigen Artgenossen nicht verzichten konnte. Die Tiere halfen uns dann die letzten 1000 Höhenmeter den Berg, einen Klettersteig, eigentlich nur für Bergsteiger zugänglich, hinunter zu kommen. Ihren Weg zurück fanden sie allein. Wie wir nach einigen Jahren erfuhren, ist jener überaus sympathische junge Mönch durch die gleiche Maultierlaune zu Tode gekommen, wie wir sie damals bei ihm erlebt hatten.

Wir befanden uns nun in einer einsamen Bucht etwas östlich von Kap Nymphaion. Es ist jene Stelle, an welcher in grauer Vorzeit die Flotte des Dareios mit 300 Schiffen zerschellte. Wir waren in einer sonderbaren Einöde. Seit Dareios hat sich hier nichts verändert. Die berühmten Hesychasten, die Kästner so bildhaft beschreibt, befanden sich 300 Meter über uns in den unzugänglichen Felsvorsprüngen. Unser Mönchs
freund hatte uns aber zugesichert, daß obwohl dieses Kap für den Schiffsverkehr strengstens gesperrt ist, doch am Nachmittag ein Boot vorbeikommt. Wir sollten winken, daß sie uns mitnehmen. Nach mehreren Stunden der Verzweiflung war dieses Wunder auch geschehen. Auf der kurzen Seefahrt vom Kap Nymphaion bis zum Kloster Mégisti Lavra an einer der gefährlichsten Klippenlandschaften des Mittelmeeres dachte ich unwillkürlich an Sindbad den Seefahrer. Unterwegs machten wir an einer sonnenlosen Bucht halt und ich half einem jungen Mönch einen Zweizentner-Sack Getreide von Bord zu hieven. Dies war möglicherweise sein Jahresproviant. Man muß schon einen starken Glauben in sich tragen, um sich derart von der Welt zurückzuziehen. Wir setzten die Fahrt fort und die Schiffsreise endete an einem antiken Hafen. Dem Zugang zum Gründungskloster des Athos “Mégisti Lavra“.

Hier erlebten wir das erste Mal eine große Liturgie. Es ist ein überwältigendes Erlebnis. Seit über tausend Jahren spielt sich Nacht für Nacht der gleiche Ritus ab. Man wird sehr früh, tief in der Nacht mit dem Símantron geweckt. Es wird immer mit höheren und tieferen Tönen geschlagen, dadurch wirkt es, als sei das klingende Holz mal ferner, mal näher. Die Athos-Mönche haben das Símantron erfunden zur Zeit, als die Türken die Kirchenglocken verboten hatten. Wenn man den Narthex und später das Katholikón betritt, haben die ersten Mönche in der Stille der Nacht schon die Vorbereitungen zum Gottesdienst getroffen, rituell symbolisch wird die Geburt und der Tod Christi vergegenwärtigt. Es herrscht eine heilige Stille und Dunkelheit vor. Erst einmal lange Zeit reine Meditation. Für jeden Eintretenden wird eine Kerze angezündet. Nach einer langen Zeit beginnt ein Mönch mit einem Gebet. Dann ein anderer, dann wieder Stille. Dann ein einzelner Gesang. Hin und wieder betritt noch ein Mönch die Kirche, bis sie sich langsam füllt. Diese sehr freie Verhaltensweise der Athos-Mönche ist in ihrer Idiorhythmie begründet, eine Sonderform des orthodoxen Mönchtums, die es nur auf dem Athos gibt. Der gesamte Raum ist in der Luft mit kleinen Lichtern bestückt. Diese werden ständig bewegt. Wenn man nach mehreren Stunden den Blick nach oben richtet, kann man schon den ersten Lichtstrahl des beginnenden Tages auf dem Antlitz des Pantokrators entdecken. Es entwickelt sich immer mehr Dynamik. Die Mönche bewegen sich im Halbdunkel von links nach rechts und von rechts nach links. Die ersten kleinen Chöre stimmen an. Wunderbare Gesänge, es klingt mir noch heute in den Ohren. Das große Mysterium wirkt so stark, daß es mit Worten und Bildern eigentlich nicht zu beschreiben ist. Irgendwie erinnert es mich in der Vorstellung auch an die Theaterkunst der griechischen Antike. Dies war ja letztendlich auch Gottesdienst. Der Zusammenklang von Dichtung, Musik, Malerei und Architektur erzeugt das vollendete Gesamtkunstwerk. Es wird immer mehr gesungen, gebetet und gelesen. Verse und Gegenverse. Hin und wieder kommt ein Mönch mit einem Weihrauchgefäß durch. Sein Klappern schwingt in die allgemeine Tonlage mit ein. Inzwischen erobert das Licht den ganzen Raum. Der schwarz gekleidete Priestermönch verschwindet in das Heiligtum und kommt in weißer Kleidung wieder heraus. Die Mönche zaubern den Tag herein und die Nacht wird vertrieben. Die wunderschönen Ikonen sind faszinierend. Es ist kein Quadratzentimeter der Kirchenräume unbemalt. Die allgemeine Stimmung im Raum nimmt an Dynamik bis zur Ekstase zu. Die Gesänge kehren immer wieder zu sich selbst zurück. Mit der Zeit erstrahlt die Ikonostase in hellstem Licht. Dann ist die Nacht aber vollkommen besiegt. Jeder einzelne Mönch verehrt jede einzelne Ikone im Raum. Je nachdem wie die Verehrung zum Ausdruck gebracht ist, entsteht eine allgemeine Bewegung, die in der ernsten Feierlichkeit fast eine fröhliche Stimmung verursacht. Ich bewundere die Kraft, welche die Mönche aus ihrem festen Glauben zu solch einer Inbrunst treibt. Als Künstler hat man eine ähnliche Leidenschaft.

An die Liturgie schließt sich das gemeinsame Herrenmahl an, das Mahl der Urchristen, wie Kästner schreibt. Wir gingen in die gegenüberliegende Trápeza. Dieser Raum war für mich so beeindruckend mit den Fresken aus dem 14. Jahrhundert in ihrer hellen Farbgebung, daß ich überhaupt nicht so richtig aufmerkte, daß der Abt das Zeichen zum Essen gegeben hatte. Ich wunderte mich über die Mönche, die sonst so bedächtig sind, wie schnell sie ihr Essen heruntergeschlungen haben. Da ich in der Regel ein langsamer Esser bin, war ich gerade dabei, etwas von den wunderbaren Speisen zu nippen, da kam vom Abt schon das zweite Zeichen, zur Aufhebung der Tafel. Ich konnte noch schnell einen Schluck Wein zu mir nehmen und eine Apfelsine einstecken, da war es schon vorbei. Der Grund für das schnelle Beenden des Essens war ein sehr alter Abt, der wahrscheinlich selbst nicht mehr viel Hunger verspürte. In anderen Klöstern sind wir aber reichlich und wunderbar bewirtet worden.

Es ist auf dem Athos so üblich, als Pilger nur einmal in einem Großkloster zu übernachten, um dann weiterzuziehen. Wir bekamen von einem Mönch das Angebot, daß er uns mit dem Lastauto nach Kloster Iwiron mitnimmt. Es war das erstemal, daß wir auf dem Athos ein Auto sahen. Wir staunten nicht schlecht über den Straßenbau von Mégisti Lavra nach Iwiron. Die neue Zeit hinterläßt doch überall ihre Spuren. Diese Straße sah so aus, daß man einfach an eine Felswand Kies aufgeschüttet hat, bis die Breite für ein Lastauto erreicht war. Es war eine lockere Angelegenheit in 300 Meter Höhe. Da dies alles noch sehr weich war, fuhr das Auto die ganze Zeit auf einer schrägen Ebene, kurz vor dem Umkippen. Ich war grau vor Angst. Dem Mönch wäre solch ein Felssturz ziemlich gleichgültig gewesen, denn er wäre ja unmittelbar in den Himmel gekommen, aber für uns drei Pilger wäre es nicht ganz egal gewesen, so plötzlich von der „Welt“ Abschied zu nehmen.

In Iwiron waren wir froh, diese Fahrt heil überstanden zu haben, und nach einer kleinen Wanderung klopften wir am Tor des Klosters Stavronikita an. Dort wurden wir sehr herzlich empfangen. Es ist ein kleines Kloster direkt am Meer, das eigentlich fast nur aus einem Katholikón besteht und dann ringsherum von riesigen Mauern mehrfach umgeben ist. Daran konnte man die Athos-Geschichte mit ihrer Seeräubervergangenheit ablesen. Die Mönche zeigten uns ganz stolz die Fresken von Theophanes dem Kreter und besonders die Wundertätige Nikolaos-Mosaik-Ikone Stridi, eines der wertvollsten Kunstwerke des gesamten Athos. Um unsererseits zu zeigen, daß auch wir Dresdner mit guter Kunst umgeben sind, hatte Harald Marx schöne Reproduktionen der „Sixtinischen Madonna“ mit. Wir überreichten den Mönchen das bescheidene Mitbringsel. Sie freuten sich am Anfang auch, bis der Eine etwas genauer hinschaute. Er fragte, wer dieser Heilige sei, und zeigte auf die männliche Figur. Wir sagten, es sei der heilige Papst Sixtus II. Daraufhin war die Freundlichkeit vorbei. Es wurde uns plötzlich klar, daß manche Athos-Mönche in der heutigen Zeit den Papst keineswegs als Heiligen ansehen. Sie wußten anscheinend nicht, das Sixtus II. in einer Zeit Papst war, in der die Kirchenspaltung noch nicht stattgefunden hatte. Die beiden Mönche waren nun überhaupt nicht mehr freundlich zu uns, und wir verließen das Kloster fast fluchtartig. Was an der Sache sehr belustigend ist, hörten wir später. Sie haben die Reproduktion keineswegs entsorgt, sondern wohl verehrt, nur das Antlitz des Papstes wurde säuberlich herausgeschnitten.

Zum nächsten heiligen Ort war es nicht weit. Das Kloster Pantokrátoros war unsere nächste Station. Es ist eine Einheit von Türmen, Kuppeln und Glockentürmen. Das Ganze steht auf einem vom Meer umspülten Felsen. Ich wohnte in einer Zelle, direkt senkrecht über den Wellen. Ein wunderbar malerischer Anblick. Die Insel Thásos konnte ich ganz deutlich sehen. Auf dem Meer standen vereinzelt Mönche auf kleinen Booten und angelten. Auf Grund unserer vorhergehenden überaus anstrengenden Erlebnisse hatten wir einfach nicht die Kraft, die Liturgie zu besuchen. Dies nahmen uns die Mönche sehr übel. Für so etwas Irdisches wie Übermüdung hatten sie überhaupt kein Verständnis. Der Gästemönch reichte uns trotzdem eine Tasse Tee und eine Scheibe Brot.

Kästner beschreibt eine Psalmenhandschrift, über tausend Jahre alt, mit Randbildern. Diese wollten wir gerne sehen. Es ging nicht. Drei Mönche haben je einen individuellen Schlüssel und man kann nur die Bibliothek öffnen, wenn alle drei Mönche zugegen sind. Einer von ihnen angelte leider auf dem Meer.

Ein Boot nahm uns mit von Pantokrátoros nach Chilandári. Vom Meer aus sahen wir unterwegs das Kloster Esphigménou, laut Kästner „eine Meerfestung, die zwischen Felsen an den Wellensaum hingebaut ist“. Auf mich wirkte sie wie eine mittelalterliche Burg, ganz Grau in Grau. Eine schwarze Flagge mit dem Totenkopf war gehißt. Ein riesiges Spruchband verkündete auf griechisch „Orthodoxie oder Tod“. Es war etwas gruselig und machte nicht unbedingt einen einladenden Eindruck.

Das prächtige serbische Kloster Chilandári war unser nächstes Wanderziel. Es gilt als geistig-religiöses Zentrum und Heiligtum der Serben. An diesem glückhaften Ort hat sich in den letzten 1000 Jahren ein einmaliger Reichtum an kirchlicher Kunst angesammelt. Den Grundstein hierfür und für die gesamte Klosteranlage bildete eine bedeutende Stiftung des serbischen Königs Milutin. Chilandári ist berühmt für seine Schatzkammer mit seltenen Kupferstichen, Evangeliaren und mit den vielen Ikonen. Im Jahre 1906 besuchte Franz Marc den Athos und bekam Zugang zu verschiedenen Handschriftensammlungen. In einem Brief schrieb er, daß es ihm besonders die berittenen Heiligen, wie der Heilige Georg angetan hatten. Es ist leicht denkbar, daß er hier die frühe Anregung für seine späteren Pferdedarstellungen fand.

Mich hat besonders die Tricherousa, die Dreihändige Muttergottes-Ikone beeindruckt. Dieses geheimnisvolle Bild sieht für mich aus, als hätte es Max Ernst gemalt. In der Kunstgeschichte gibt es viele Parallelen dieser Art. Hier in diesem Kloster hatte ich mit einem Mönch ein bemerkenswertes Gespräch. Er sagte mir, daß Jugoslawien eine sehr schwere Zeit bevorsteht, möglicherweise wird es einen Krieg geben. Ein halbes Jahr später hatte ihm die Wirklichkeit recht gegeben. Es ist schon sehr eindrucksvoll, wie genau die Athosbewohner ohne Medieninformationen so präzise über das Geschehen in der Welt Bescheid wissen.

Den Abschluß unserer Pilgerwanderung bildete ein Aufenthalt im Kellion des einzigen deutschen Mönches des Athos, Mönchsdiakon Panteleimon. Auf dem Weg zu ihm stellten wir plötzlich fest, daß uns die ganze Zeit ein Wolf begleitete. Aber der Athos ist ja ein friedliches Refugium, so brauchten wir uns nicht zu fürchten. Unser Freund, der Mönch Panteleimon kommt eigentlich aus dem Schwarzwald. Er hatte im Jahre 1983 eine ähnliche Pilgerwanderung unternommen wie später wir auch. Dies führte bei ihm dazu, im Unterschied zu uns, ein halbes Jahr später mit der Welt zu brechen und sich ganz als Mönch auf dem Athos niederzulassen. Er lebt heute als Einsiedler im Kellion Megalli Jovannitza. In dem Menschen Panteleimon vereinigen sich etwa alle positiven Eigenschaften und Talente, die ein weltlicher Mensch haben kann. Er kann gut wirtschaften, hat Humor, ist literarisch begabt, musikalisch, mit einer besonders schönen Stimme begnadet, sprachbegabt, ein erstklassiger Koch und Gärtner. Die Aufstellung seiner Fähigkeiten läßt sich endlos fortsetzen. Es liegt wahrscheinlich an der Welt selbst, daß dieser besondere Mensch sich von ihr abgewendet hat.

Zur Zeit unseres ersten Besuches war noch die Aufbauphase dieses von zwei russischen Mönchen irgendwann verlassenen kleinen Klosters. Panteleimon, der schöpferische Mensch, schmiedete noch Pläne. Er meinte zum Beispiel, man müßte die vielen alten Olivenbäume wieder kultivieren. Bei diesen Worten entstand vor meinen Augen die Illusion einer Märchenwelt, wie im Paradies. Bei unserem zweiten Besuch, zehn Jahre später, war diese Märchenwelt in die Realität übergegangen. In Jovannitza befindet sich eine kleine Kapelle, in welcher Panteleimon für uns individuell zu sehr früher Stunde Liturgien in deutscher Sprache abhielt. Damit verschaffte er uns unvergeßliche Eindrücke.

Unsere Zeit ist leider zu schnell bei ihm vergangen, und wir machten uns zur Abreise bereit. Ich öffnete die Tür, und eine riesige, eingeringelte Schlange versperrte mir den Weg und blickte mich erwartungsvoll an. Ich bekam einen panischen Schreck und rief laut nach dem Pater. Er eilte herbei und löste das Problem mit einem Stock, womit er die Schlange wegschubste. Wir verabschiedeten uns und konnten unseres Wegs gehen.

Erhart Kästner konnte noch 1956 schreiben: „Merkwürdig, daß es auf dem ganzen heiligen Berg kein Fahrzeug, keinen Wagen, nichts Rollendes gibt, nicht einmal eine Straße. Das Rad, das Zeichen der Arbeitswelt, das Zeichen der Zeit, tritt nicht auf, nicht als Mühlrad, Zahnrad, nicht als Schwungrad, in keiner Maschine, kein Getriebe, kein Motor. Vielleicht, daß man einmal ein Wasserrad sieht, und die Uhren. Aber es gibt eben nicht viele Uhren. Dies Gebirg wird vom Geld, vom rollenden Geld, vom Rad und vom Zahnrad gemieden.“ So könnte ich es seit meinem zweiten Athos-Besuch im Jahr 2001 nicht formulieren. Die Zeit ist inzwischen fortgeschritten. Der Athos hat sich der Welt gegenüber geöffnet. Eigentlich hat er sich im gesamten Zeitraum seit seiner Gründung der Außenwelt gegenüber nie ganz verschlossen.

Veit Hofmann 2004

 

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